Hartmann / Philosophische Grundlagen 2.9.Vom Rechner zum Medium
Die postindustrielle Informations- oder Wissensgesellschaft provoziert neue Fragen zu den Grundlagen und den sozialen Implikationen des technischen Fortschritts. Der als Rechner entwickelte Computer mutiert zum Medium. Die Telematik stellt auch die Geisteswissenschaften vor neue Fragen. Wir skizzieren abschließend zwei Varianten der theoretischen Annäherung an eine Medienphilosophie, nämlich die Fortsetzung des phänomenologischen Ansatzes bei Flusser und die Weiterführung des 'Technological Conditioning' bei Kittler.
a) MEDIENANTHROPOLOGIE
"Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist,
uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens
vergessen zu machen. " - Vilém FlusserDie Kulturtheorie nähert sich derzeit einem dynamischen Kulturkonzept an: gegen die determinierenden Strukturen politischer, wirtschaftlicher, sozialer und eben technischer Natur werden (z.B. über die historische Anthropologie) konkrete Lebensformen und Wahrnehmungen der Menschen berücksichtigt.
Diese prägen schließlich durch ihre Handlungen und Interpretationen die Kultur aktiv mit. Das gilt auch für den Gebrauch und das Verstehen einzelner Medien, deren Bedeutung sich vielleicht doch nicht ganz aus der technischen Dimension, aus ihren "Schaltungen" (vgl. Kittler) erschließt.In seinen Vorlesungen zur "Kommunikologie" relativiert Vilém Flusser (1920-1991) implizit den Ansatz McLuhans: erst nach dem zweiten Weltkrieg beginnt die zweite industrielle Revolution (welche über die Elektrizität die Speicher- und Übertragungsmedien einsetzt) ihre Effekte zu zeitigen. War die erste industrielle Revolution mit den mechanischen Maschinen die technische Simulation menschlicher Muskelkraft, so besteht die zweite in der technischen Simulation der menschlichen Sinnesnerven (McLuhan: Ausweitung des Zentralnervensystems). Dadurch veränderte sich zunächst die Arbeit, als Prozeß der Dekontextualisierung von Mensch und Welt (Gellner), sie erforderte eine neue Anthropologie. Sodann veränderte sich die Kommunikation, das Verhältnis zwischen den Menschen. Der technischen entspricht aber noch keine soziale Innovation, es gibt ein kommunikationstheoretisches Vakuum, und deshalb fordert Flusser entsprechend zur Technologie eine diese ergänzende Kommunikologie.
Ähnlich wie McLuhan war Flusser ein Feind des Fernsehens und der beginnenden Telematik - jedoch ohne in Kulturpessimismus zu verfallen: "Die Krise der Linearität, deren erste Phase wir miterleben, ist vor allem eine Herausforderung an uns: wir sollten die neu auftauchende Einbildungskraft mobilisieren, um die Krise in uns und um uns herum zu überwinden." Die Kommunikologie stellt eine Art Selbstkritik der Kultur dar, um die wesentliche kulturelle Veränderung - die Transformation des alphanumerischen Codes, das Jenseits der Schrift - zu begreifen. Dieses Jenseits bedeutet die Loslösung vom linearen Kulturmodell des 'Fortschritts' in der Menschheitsentwicklung:
Flussers Ausgangspunkt ist eine Phänomenologie der Medien, die deren 'oberflächliche' Erscheinung und die damit verbundenen Gesten untersucht. Kommunikation ist ein negentropischer Prozeß. Informationen werden gespeichert, erworbene Informationen werden weitergegeben. Kommunikation ist ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode.
"Zuerst trat man von der Lebenswelt zurück, um sie sich einzubilden. Dann trat man von der Einbildung zurück, um sie zu beschrieben. Dann trat man von der linearen Schriftkritik zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich projiziert man aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bilder. Selbstredend ist diese Reihe von Gesten nicht als lineare Reihenfolge zu sehen. Die einzelnen Gesten lösen einander nicht ab und auf, sondern überdecken einander und greifen ineinander."
Seine Kommunikationstheorie zielt auf die Veränderung des unsere Kultur bestimmenden alphanumerischen Codes. Das 'komputatorische Bewußtsein' gilt als neues Kulturpotential, die Theorie bleibt als interpretative Disziplin 'humanistisch'.
Sie mündet in einer postmodernen Anthropologie: das Potential der Virtualisierung läßt eine Medientheorie der Prothesen (Simulation von Muskeln oder Nerven) weit hinter sich - nach einer kulturellen Phase der Veränderung von Wirklichkeit (durch Arbeit) treten wir in eine Phase der Verwirklichung von Möglichkeiten. Der Mensch wird vom Subjekt zum Projekt.b) MEDIENTECHNOLOGIE
"Menschen haben die Informationsmaschinen nicht erfunden,
sondern sind umgekehrt ihre Subjekte." - Friedrich KittlerÜber die poststrukturalistisch inspirierte Diskursanalyse der siebziger Jahre entwickelte sich eine Sachlichkeit der technischen Argumentation, die sich strikt gegen jegliche Hermeneutik des Sinnverstehens (besonders in der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition) richtet: Das ist der Ausgangspunkt für Friedrich Kittlers Analysen. Nicht Subjekte oder deren Bewußtsein, sondern Schaltungen bestimmen, was wirklich ist. Kultur ist als ein Prozedere von Datenverarbeitung anzusehen. Damit begründet sich der methodische Übergang von der Literatur- zur umfassenden Medienanalyse.
Ohne Thematisierung des sie bedingenden technischen Raums (in dem gespeichert, übertragen, und berechnet wird) geraten philosophische Theorien heutzutage schlicht euphemistisch. Kittler ist nicht Aufklärer, sondern eher Entmythologisierer, der eine letztmögliche Form von Metaphysikkritik be-treibt, indem er die Kulturtheorie dem technischen Stand der Dinge annähert und die Bedingungen der Hardware untersucht.Die wissenschaftliche Gelehrtenrepublik formiert sich über solche verborgenen medientechnischen Operationen: der geisteswissenschaftliche Text sucht die ihn miterzeugende Medientechnik unsichtbar werden zu lassen. Sie läßt sich über die materialen Produktionsbedingungen entmystifizieren als "eine endlose Zirkulation, ein Aufschreibesystem ohne Produzenten und Konsumenten, das Wörter einfach umwälzt."
Ihre Produkte, allem voran Bücher, sind Medien, nicht Träger irgendeines metaphysischen Wissens. Die unerkannte Normativität der Buchkultur ist eine mittlerweile gebrochene. Denn: "Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken." (Friedrich Nietzsche). Das ist das Leitmotiv für Kittlers Mitte der achtziger Jahre erschienene Studie zu Grammophon, Film, Typewriter.Eine Philosophie der Medien hätte demnach bei den Medien der Philosophie zu beginnen. Damit hat Kittler die einst sloganhaft formulierte Einsicht Marshall McLuhans, daß das Medium selbst schon eine Botschaft sei, nicht nur ernstgenommen, sondern sogar noch radikalisiert: besonders unter den Bedingungen einer Immanenz der Nachrichten-techniken, die den von Philosophen systematisch übersehenen oder mißachteten Schematismus der Wahrnehmbarkeit bilden, zählen nicht Botschaften oder die konkreten Inhalte der Medien, "sondern einzig ihre Schaltungen".
Daraus abgeleitete Forschungsfragen sind:
-Technikstrukturen (vom Papyrus über Stadtstrukturen bis zum Siliziumchip) bilden die Hardware allen Geistes. Wie lassen sich diese Schaltpläne des Geistes lesen? Wie ist ein Denken ohne Körper vorstellbar, als systematische Schaltung nach Hardwareprinzipien? Wie entsteht Bewußtsein als Effekt des technischen Raums?
- Wie beeinflußt die Medientechnologie den menschlichen (kulturellen) Habitus, bzw. wie lassen sich die in die Technik eingeschriebenen Sozialprozesse decodieren? Wie formieren sich medial determinierte Diskursstrategien? Was leistet eine Theorie der Medialität?
- Was bedeutet die Transzendierung sprachlicher Codes in der Entwicklung elektronischer Technologien? Computertechnologie ist mehr als eine bloße Infrastruktur des Wissens. Sie exekutiert Foucaults Rede vom Verschwinden des Menschen.
Internet:
Die Weltrevolution nach Flusser
Flusser Biographie und SchriftenFriedrich Kittler Files
Friedrich Kittler (Lehrstuhl Geschichte und Ästhetik der Medien, Uni Berlin)
Literatur Teil2 Zurück zum Inhalt Zurück zur Übersicht Zurück zur MainPage