Hartmann / Philosophische Grundlagen 1.10.Von der Sprach- zur Kulturkritik
"Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden,
recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anglegt,
aber sie sind nicht mit ihm verwachsen
und machen ihmgelegentlich noch viel zu schaffen."
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930)
Man sollte die nach der Jahrhundertwende sich verstärkende Kulturkritik als eine Fortsetzung und Erweiterung der Wende von der Erkenntnis- zur Sprachkritik ansehen. Karl Kraus' Pressekritik wäre in diesem Sinn eine Fortsetzung Fritz Mauthners. Kulturphilosophische Skepsis geht eindeutig mit einer Sprachkritik einher.
Weiter: Innovationen im Bereich der Medien (Telefon, Film, Fotografie) verändern gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit. Kann die Aufklärung sich diese neuen Mittel zunutze machen? Es scheint nicht so: denn trotz aller Errungenschaften und wissenschaftlicher Erfolge kommt es jetzt zu den großen ökonomischen und politischen Krisen der Moderne, zur Dialektik der Aufklärung. Philosophen sprechen von einem Selbstzerstörungsprozeß, welcher der Aufklärung eingeschrieben sei. Dialektik der Aufklärung meint, daß das ursprünglich befreiende Moment (die Vernunft) auch in Unterdrückung (Unvernunft) umschlagen kann. Oder in den Worten Husserls: der entdeckende Geist der Aufklärung ist zugleich ein verdeckender, da ihm der Sinn der Fortschrittsleistungen zunehmend entgleitet. Das bedingt die Wahrnehmung von zwei Ebenen des In-der-Welt-Seins, die daseiende und die eigentliche (Heidegger-Diktion). Hier beginnt die verästelte Kritik der sekundären Welt der Medien.Während die einen (Philosophie des Wiener Kreises) glaubten, in der zunehmenden Verwissenschaftlichung und dem Zurück zur Einheitlichkeit des Symbolsystems liege das Heil, wollten andere der Tatsache Rechnung tragen, daß die symbolische Welt (Kultur) in der Moderne durch zunehmende Instrumentalisierung ('Verdinglichung') die Krise selbst miterzeugt. Das beginnende 20. Jahrhundert entwickelt drei Stränge einer Kritik an der sekundären Welt:
1. romantisch (Phänomenologie und Fundamentalontologie)
2. analytisch (Wiener Kreis)
3. emanzipatorisch (Kritische Theorie)
Die Philosophie Edmund Husserls (1859–1938) reagiert auf die Verwissenschaftlichung, indem sie subjektive Erfahrung und (dialogisch) kommunikative Aspekte als "Arbeit an den Phänomenen" in den Vordergrund rückt. Der phänomenologische Begriff der Erfahrung (die man eben auch auf kommunikativem Wege macht) hebt sich von der abstrakten Erkenntnis ebenso ab wie von der wissenschaftlichen Erklärung.
Dabei kommt der Begriff der Lebenswelt auf, unsere "wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, je erfahrene und erfahrbare Welt" als eine Form von verborgener Vernunft oder dem "vergessenen Sinnfundament der Naturwissenschaft". Husserl referiert in diesem Sinne um 1935 über die "Krisis der europäischen Wissenschaften".
Die Methode des Phänomenologen ist das Problematisieren des Unproblematischen, es geht um eine verborgene innere Methodik (die uns allgemein erst dann bewußt wird, wenn sie im Alltag nicht mehr funktioniert). Die transzendentale Reflexion auf die Lebenswelt rekonstruiert als 'Intentionalität' (Bewußtsein als Bewußtsein von etwas) das 'wie' im Zustandekommen von 'Welt' durch 'Subjektivität'. Von kommunikationstheoretischer Bedeutung ist die phänomenologische Analyse der bedeutungsverleihenden Akte; weiters findet sich bei Husserl eine Analyse der Gesellschaft als Mitteilungsgemeinschaft.Anknüpfend an seinen Lehrer Husserl entwickelt Martin Heidegger seine 'Fundamentalontologie'. 1927 erscheint das wirkungsmächtige Werk "Sein und Zeit". Ein Hauptmotiv, das hier zur Entfaltung kommt, ist eine Kritik der Selbstentfremdung (er nennt es Seinsvergessenheit) des Menschen in modernen Lebensverhältnissen. Die Philosophie reagiert darauf mit einem Versuch der "Entbergung" von ursprünglichem Sein: Das Seiende (vom Menschen geschaffen) verstellt das Eigentliche des Seins. Heidegger nutzt stark die Möglichkeiten einer mythopoetischen Ausdrucksweise, da Sprache mehr sein sollte als ein funktionales Kommunikationsmittel. Später stellt Heidegger die Frage nach dem Ursprung der Technik als dem Gestell, das sich hier gewissermaßen zwischen Mensch und Natur schiebt (vgl. diskutierten Text zur Technik).
Nicht nur in der Hermeneutik (H.G. Gadamer) wirkt diese philosophische Schule fort, sondern auch in der verstehenden Soziologie (Alfred Schütz, G.H. Mead), und natürlich in der französischen Philosophie, vom Existentialismus Jean-Paul Sartres bis zum Dekonstruktivismus Jacques Derridas. Gegenwärtig entstehen wieder mehrere phänomenologisch orientierte Medien- bzw. Interfacetheorien. als Verständigungswissenschaft bei Peirce (K.O. Apel).
Bereits der Logiker Gottlob Frege forderte ein neues mathematisches Zeichensystem, aus dem jede Vieldeutigkeit verbannt ist (vgl. die Begriffschrift von 1879).
Der Physiker Ernst Mach (1838-1916) erarbeitet eine — gegen jede spekulative Philosophie gerichtete — monistische Wissenschaftsauffassung, nach der die Welt aus unmittelbar gegebenen, wahrnehmbaren Elementen und ihren Relationen besteht, die man beschreiben und systematisieren kann: alle durch die empirische Erfahrung nicht überprüfbaren Annahmen werden als metaphysische ‘Scheinprobleme’ aus der Wissenschaft ausgeschieden.
Der deutsche Philosoph Moritz Schlick (1936 an der Uni Wien ermordet) tritt 1922 die Nachfolge von Mach an. Auch er befürwortet logische Analyse und den Empirismus, die Aufgabe zur Neubegründung wäre das Freilegen eines Systems allgemeinster Prinzipien (Logischer Empirismus). Dies ist das Arbeitsprojekt des Wiener Kreises (wie Otto Neurath den wissenschaftlichen "Verein Ernst Mach" nannte), im Sinne der wissenschaftlichen Aufklärung. Die antimetaphysische Tatsachenforschung soll einer bewußten Lebensgestaltung dienen. Daraus sollte die Einheitswissenschaft entstehen, die über eine universale Wissenschaftssprache und klare Systematisierungen in die Praxis eingreift.
Rudolf Carnap (Der logische Aufbau der Welt, 1928): „... wir spüren diese Haltung in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen ... Es ist eine Gesinnung, die überall auf Klarheit geht ... "Otto Neurath ist kommunikationstheoretisch wohl am interessantesten, da er mit seiner neuen Bildsprache (Piktogramme) ein anderes Vermittlungsprinzip und eine jedermann zugängliche Wissensbasis schaffen wollte: vgl. dazu meinen Artikel "Sprechende Zeichen" in Telepolis
Mit dem Forschungsprogramm des von Max Horkheimer ab 1931 geleiteten Frankfurter Instituts für Sozialforschung entsteht eine neue, interdisziplinäre Form der Sozialwissenschaft, die zum Forschungsgegenstand die ökonomischen, psychischen und sozialen Faktoren des menschlichen Zusammenlebens hat.
In der gesellschaftlichen Krise drückt sich eine Krise der zugrundeliegenden „Vernunft" aus, die wiederum nach einer sozialpsychologisch angereicherten Kulturkritik (= durch Analyse des psychoanalytisch entdeckten Triebverzichts) verlangt: Noch vor den Medien sind Wissenschaft, Kunst und Religion jene großen Illusionen, die von der Realität – und vor allem von ihren negativen Ausprägungen – ablenken; Sigmund Freud nannte sie die „Ersatzbefriedigungen, die (das Elend der Welt) verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen".
Herbert Marcuse sprach in diesem Sinn 1937 (unter dem Eindruck der faschistischen Massenkultur) vom affirmativen Charakter aller Kultur. Sie besetzt ein Reich des schönen Scheins, der vom Elend der Existenz ablenkt: ein fiktives Glück, dessen Beschränktheit durch die ideologiekritische Analyse von 'Kunst' aufzuweisen ist. (Die technische Entwicklung der Medien bedeutet in diesem Kontext nur eine Steigerung der Verblendungsmöglichkeiten und damit eine Depotenzierung aufklärerisch-emanzipatorischer Hoffnungen: mit dieser Einschätzung wurde Marcuse in den sechziger Jahren zur Symbolfigur einer rebellischen Gegenkultur.)
Ungefähr zur selben Zeit (1936) und wie Marcuses Beitrag auch in Horkheimers ‘Zeitschrift für Sozialforschung’ publiziert, entstand Walter Benjamins berühmt gewordener Essay über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Benjamin diagnostiziert hier einen Funktionswandel der Kunst auf der materialen Grundlage einer Veränderung der Reproduktionstechniken. Benjamin war sensibel genug, um darin auch neue Möglichkeiten zu sehen: Der Film wurde als die fortgeschrittenste künstlerische Produktionstechnik analysiert und wie die Fotografie als Möglichkeit nicht bloß neuer Funktionen, sondern auch neuer (d.h. einer nicht-kontemplativen) Erkenntnis gesehen.
Die Analyse der realen gesellschaftlichen Verhältnisse verdunkelte zunehmend die theoretische Perspektive: statt der Lichtmetapher der Aufklärung wählt Horkheimer die Metapher der Dämmerung, schließlich der Verfinsterung; er schreibt eine in den späten sechziger Jahren aktualisierte ‘Kritik der instrumentellen Vernunft’. Daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt jeweils auch ein fortschreitende Unmündigkeit und Unfreiheit der Menschen bedeutet, war die zentrale These der „Dialektik der Aufklärung" (ca. 1944), die Max Horkheimer unter anderem mit Theodor W. Adorno formuliert hat. Eins ihrer Hauptmotive dabei ist die „Kritik der Kulturindustrie".
Als theoretisches Relikt der früheren empirischen Forschungsprogramme bildet dieser Text ist eine Art Diskussionsprotokoll von Horkheimer mit seinen Mitarbeitern Pollock, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Die Geschichte der ganzen Zivilisation wird hier als Emanzipation vom Naturzwang dargestellt, um den Preis der Unterdrückung der äußeren wie der inneren Natur (Ausbeutung von Ressourcen bzw. Unterdrückung der Triebe und Lüste). Die standardisierten Arbeitsprozesse des Industriezeitalters beschließen, so die düstere Diagnose, das vorläufige Ende einer Zivilisationsentwicklung, als deren Ergebnis eine defizitäre Persönlichkeitsentwicklung jene psychischen Leerstellen erzeugt, die von der Kulturindustrie einerseits und vom Faschismus andererseits besetzt werden. Die über Massenmedien neu bereitgestellten Ersatzbefriedigungen pervertieren die Aufklärung zum Massenbetrug.
Horkheimer und Adorno schließen besonders aus dem kulturindustriellen ‘Verblendungszusammenhang’ auf einen durch Medien verstärkten Selbstzerstörungsprozeß der Aufklärung, der nur zu durchbrechen wäre, wenn man die Geschichte des von der neuzeitlichen Subjektivität Verdrängten und Ausgesperrten bewußt macht – die Versöhnung von Geist und Natur als Utopie der Vernunft. Ihre Thesen verkünden also nicht das Ende der Aufklärung, sondern versuchen die Pseudo-Aufklärung im Dienst ökonomischer und politischer Interessen zu demaskieren.
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