Hartmann / Philosophische Grundlagen 2.8.Vom TV zum Computer
"I am resolutely opposed to all innovation, all change, but I am determined to understand what is happening. . . And then you know where to turn off the buttons." - McLuhan
Vor der Konstellation des Kalten Krieges und den damit verbundenen Vorstellungen von Offenheit/Geschlossenheit thematisierte McLuhan (vgl.Thema 7) die Medien als neues "Theorieobjekt", wobei der New Criticism der angloamerikanischen Literaturkritik so ausgeweitet wurde, daß nicht mehr nur ästhetische Qualitäten des Kunstwerks oder inhaltliche Qualitäten der Medien zählten, sondern diese selbst als eine Erkenntnisquelle hinsichtlich unserer kulturellen Gegenwart genommen wurden. Die Materialität des Kommunikationsmedium als solches rückte freilich schon mit Harold Innis, dem "Lehrer" von McLuhan, in der Vordergrund (vgl. Thema 5). Für eine breit angelegte Medienwissenschaft fand deren Ansatz bislang jedoch eher wenig wissenschaftliche Wirkung.
Die Entwicklung menschlichen Bewußtseins und die Bedingungen menschlichen Erkennens unterliegen Medienbedingungen, die letztlich nur durch eine Archäologie der Kommunikationsverhältnisse zu klären sind. Deren zentrale Frage ist, welche Funktion die Medien für die Entwicklung moderener Gesellschaften haben. Sogar zur alten Technik des Buchdruck gibt es noch zuwenig medientheoretische Werke, so Eisenstein (vgl. Thema 6), die im weiteren eine systematische Grundlage zur Analyse neuerer Transformationsprozesse bieten könnten.
In der Nachfolge von McLuhan analysiert (im Rahmen des McLuhan Programms für Kultur und Technologie an der Univ. Toronto) derzeit Derrick de Kerckhove die kognitiven Auswirkungen der Medientechnik: anhand historischer und neurophysiologischer Untersuchungen wird in diesem "neurokulturellen Ansatz" untersucht, wie Medien bestimmte Funktionen des Gehirns selektieren und stabilisieren, wodurch kulturtechnische Praktiken entstehen. Punkte dieser Argumentation sind:
Neue Medien bedeuten neue Formen der Verbindung von privatem und kollektivem Bewußtsein. Damit ändert sich die Konstellation dessen, was wir unter dem Begriff Öffentlichkeit subsumieren. Weiters werden die Bedingungen der abendländischen Schriftkultur als historisch kontingent erkennbar: ihre "Logik der Tatachen" ist nicht unbedingt die verallgemeinerbare Grundstruktur des menschlichen Wirklichkeitsbezugs, es entsteht eine neue Semiotik der elektronischen Kommunikation: das "digitale Zeichengeflecht" des Internet relativiert die klassische Konstellation von Sprache, Schrift und Bild. Die Abwertung des Bildes ist ein Effekt des Alphabets; nun wird die nicht-phonetische Schrift rehabilitiert (Wiederkehr des verdrängten "Scheins") rehabilitiert. Der Verlust, den die kulturkritische Bilanz hier auszeichnet, ist der von einem Zeichensystem als verbindliche Grundstruktur. Im Hypertext des Internet herrschen bereits "transversale Verflechtungsverhältnisse" (M. Sandbothe) von phonetischen und nicht-phonetischen Schriften.
- das phonetische Alphabet distanziert Text und Leser bzw. Text und Bedeutung. Dies hat kognitive Implikationen - durch Verinnnerlichung der Schrift entsteht die Theorie;
- die Schrift befreit von den Einengungen und den Zwängen der oralen Sprachkultur. Das kollektive Bewußtsein wird durch die Lesekultur zu einem privaten Bewußtsein;
- die Elektrizität hat die Entwicklungslinie des Alphabets umgekehrt und eine dislozierte Vernetzung ermöglicht; die instantane Kommunikationskultur des Fernsehens stellt eine kollektive Datenverarbeitung dar;
- Kommunikation (Information) ist nicht exklusiv sprachvermittelt. Sprache ist nur noch ein Medium im Medium.
Literatur:Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zu Computer. München: Fink 1995
Internet:
Derrick de Kerckhove / McLuhan Centre
INTERVIEW / Kerckhove: What would McLuhan say? [WIRED 4.10, 1996]
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